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Kreta im Dezember - jeden Tag ein neuer Rekord

Ein Bericht von Valentina Schuster, Tierärztin

Ob ich vor dem Jahreswechsel noch einmal Zeit für einen Einsatz auf Kreta habe, wurde ich irgendwann in den Spätsommermonaten von Melanie gefragt, es gäbe eine kleine "Versorgungslücke" und die Anfragen seien enorm. Tatsächlich fand ich in meinem Terminkalender noch einen Zeitraum von drei Wochen im Dezember, die ich unter keinen Umständen tatenlos und punschtrinkend auf dem gemütlichen Sofa verbringen wollte. Der Gedanke an ein nasskaltes und windiges Kreta dämpfte meine Vorfreude zunächst, aber mein zweiter Gedanke war, dass unzähligen Straßentieren genau dieser unerbittliche griechische Winter bevorstand und es nächstes Jahr NOCH mehr Tiere - und so weiter und so fort - wenn wir nicht etwas dagegen täten. Also los!

Seit einigen Jahren begleite ich als Tierärztin Kastrationseinsätze für den Tierschutz und kenne die Strapazen, die einem die langen Arbeitstage im OP abverlangen und somit auch meine körperlichen Grenzen. Das lange Stehen, das häufige Bücken, Zwischenfragen und die vielen Untersuchungen am Tier machen müde, jedoch ist vom ersten bis zum letzten Moment volle Konzentration gefragt, Genauigkeit, Aufmerksamkeit und auch Feingefühl im Umgang mit den Tieren und anderen Teammitgliedern. Daher setze ich mir bei der Planung der Einsatztage gerne eine Optimallimit von 30 Operationen, denn man weiß nie, was einen erwartet: zeitraubende Sonder-OPs wie Bauch- oder Leistenbrüche, Amputationen, Augen-OPs, die Untersuchung und Versorgung verletzter oder kranker Tiere, Narkosezwischenfälle oder Operationskomplikationen, die enorme Sorgfalt verlangen...

Es ist keine Seltenheit, dass wir erst spät von einem Einsatztag zurückkommen und man muss sich seine Kräfte einteilen können, denn auch nach Feierabend ist noch einiges für den nächsten Einsatztag vorzubereiten, wie z.B. die Pflege und Sterilisation der Operationsinstrumente, das Zusammenstellen der Verbrauchsmaterialien und Medikamente, Wäschewaschen und bloß nichts Wichtiges vergessen.

Meine Kollegin Gerlinde, die die Koordination der Kampagnentage in Rethymnon übernimmt, versprach mir schon im Voraus, dass es anstrengend werden würde, die Anfragen für Kastrationen seien gerade sehr groß und viele Griechen hätten jetzt, wo Tavernen und Hotels geschlossen hatten und die Urlaubsinsel in eine Art Winterschlaf gefallen war, endlich wieder Zeit um Straßenkatzen auch in entlegeneren Bergdörfern einzufangen und die teils weiten Strecken zur Kastrationsklinik zu überwinden.

Die ersten 10 Einsatztage in Rethymnon waren schneller voll, als man “Tierschutzmanagement” sagen kann und von der 30-Operationen-Idee hielt Gerlinde, die mit sehr vielen Tierschützern in Kontakt steht und selbst unzählige Futterstationen betreut, kurz gesagt nichts. Zu groß sei der Bedarf und die Nachfrage, so lange die Warteliste. Brauchte es da noch andere Argumente?

Also gut, packen wir's an - etwas anderes blieb mir da nicht zu sagen.
Ich war sehr überrascht von den guten Konditionen in diesen Tagen auf Kreta, angenehme 19 °Außentemperatur, ein motiviertes Team, fangfreudige Tierschützer und Patienten, die im Großen und Ganzen wohlgenährt und gesund zu sein schienen.

Es gibt nur ein paar Monate im Jahr - und der Dezember gehört dazu, in denen die weiblichen Katzen auf Kreta alle im Anöstrus sind. Das heißt, dass der Zyklus in dieser Zeit ruht, das Gewebe weich und elastisch ist und die Kastration durch einen sehr kleinen Bauchschnitt erfolgen kann. All die im Frühjahr geborenen Kitten, die im Sommer von Touristen in den vielen Hotels und Ferienanlagen gefüttert wurden, waren nun im genau richtigen Alter für die Kastration und würden auch ohne die zusätzliche Belastung durch Rivalitätskämpfe und Trächtigkeit einem harten und kargen Winter entgegenstehen.

Und so hatten wir oftmals schon vor dem Nachmittagskaffee 30 Tiere operiert und einen noch vollen Warteraum...55 Kastrationen, am nächsten Tag 68, am nächsten Tag 41 Weibchen, am nächsten Tag 22 Hunde… Ein Tag nach dem anderen Kastrationen, Kastrationen, Kastrationen…
Jeden Tag wurde der Rekord vom Vortag geknackt und obwohl ich das Gefühl hatte, dass es doch jetzt WIRKLICH keine unkastrierten Tiere mehr auf den Straßen geben könnte, war der Warteraum am nächsten Tag wieder übervoll mit Katzenboxen, genauso wie am nächsten Einsatzort und am übernächsten.

Man kann leicht zusammenzählen, wie viele Tiere wir an 3 Einsatzorten und 15 Kampagnentagen kastriert, versorgt und gegen Parasiten behandelt haben. Wie groß ist aber der Mehrwert unserer Arbeit? Wie viel größer ist das Wohlbefinden ohne Würmer im Darm? Um wie viel steigt die Lebensqualität, nachdem einem 3-17 faulende Zähne aus dem Maul gezogen wurden? Wie groß ist die Erleichterung, wenn einen nicht mehr hunderte von Flöhen täglich malträtieren, oder wenn die Milben im Ohr endlich abgetötet sind und die blutig gekratzte Haut nun abheilen kann? Wie viel Leid wird verringert dadurch, dass unzählige Katzenwelpen gar nicht erst geboren werden und die erwachsenen Tiere sich nurmehr um sich selbst kümmern müssen?
Durch Zahlen können wir messen, vergleichen und bewerten, aber es gibt keine Zahl, die die Sinnhaftigkeit unserer Arbeit auf Kreta und in all den anderen Projekten beschreibt.


Ich genieße die schönen Momente auf Kreta immer sehr bewusst und zu 200%: der erste Blick aufs Meer am Morgen, die Lichter der Küstenstädtchen am Abend, die Begrüßung durch unseren Hofhund Tassos jeden Tag aufs neue, die voll hängenden Orangenbäume, die Freundlichkeit der Menschen, denen wir durch unsere Arbeit helfen konnten ... und ich fände es vollkommen ok, auch im nächsten Jahr die gemütliche Couch gegen einen Kastrationseinsatz einzutauschen.

Valentina