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Intuition

Ein Bericht von Lara König, Tierärztin

Intuition ist laut Definition eine unbewusst ablaufende Art der Entscheidungsfindung. Intuitiv entscheidet man meist spontan und automatisch. Man hat plötzlich eine „Eingebung“ oder manchmal auch einfach nur „so ein Gefühl“. Für überwiegend rational denkende bzw. verkopfte Menschen, so wie ich es bin, ist es normalerweise nicht üblich, einer Empfindung zu folgen. Deshalb ist es für mich im Nachhinein umso erstaunlicher, wie ich im Frühling dieses Jahres eine Entscheidung traf, die mein Leben in Zukunft nachhaltig verändern wird.

Ich bin Mitte April als frisch gebackene Tierärztin zu meinem ersten Kastrationseinsatz als Teil des Tierärztepools nach Kreta geflogen. Nach einigen Einsatztagen in Rethymno nahe Heraklion, brach ich gemeinsam mit zwei weiteren Kolleginnen zur sogenannten „Osttour“ auf. Geplant war, dass wir innerhalb einer Zeitspanne von ungefähr zwei Wochen drei verschiedene Gemeinden im Osten der Insel besuchen, um die Straßentiere der Region zu kastrieren.

Die erste Herausforderung bestand bereits am Tag vor unserer Abreise darin, für diesen mehrtägigen Einsatz alle notwendigen Verbrauchsmaterialien (Abdecktücher, sterile Handschuhe, Instrumente etc.) – logistisch klug –  einzupacken (wer das Videospiel „Tetris“ kennt, kann sich vorstellen, wie wir das Auto beladen haben). Wir haben zwar eine ungefähre Tieranzahl im Voraus übermittelt bekommen, waren aber noch im Ungewissen, wie viele Tiere tatsächlich auf uns warten würden, da auch umliegende Tierfänger informiert und zusätzlich weitere Straßentiere in die dortigen Tierheime gebracht wurden.

Ich wurde im Vorfeld von meinen Kolleginnen gewarnt. Für viele Tiere sind die sogenannten „Public Shelter“ (öffentliche Tierheime) nämlich eine Art Endstation. Eine wirkliche Chance auf eine Vermittlung in ein liebevolles Zuhause gibt es meist nicht. Die, teilweise notdürftige, Unterbringung vieler herrenloser Hunde, hat oft nichts oder nur wenig mit einem deutschen Tierheim gemein. Ressourcenknappheit, die „Welpen-Schwemme“ und das fehlende Personal führen überwiegend zu relativ misslichen Zuständen. Kurze Zeit später stand ich in eben einem dieser Tierheime und war sofort niedergeschlagen. Dieses erste Gefühl brennt sich ein und man kann es nicht mehr abschütteln. Man blickt auf die vielen Tiere und eine Mischung aus Trauer, Mitleid und Betroffenheit mischen sich mit Verzweiflung, irgendwann auch Akzeptanz und letztendlich dem Willen, nachhaltig an der deprimierenden Gesamtsituation etwas ändern zu wollen. Dennoch war mir bereits vor meinem Einsatz klar, dass ich nicht zu den Leuten gehören möchte, die, wahllos und aus reinem Mitleid, Tiere aus dem Ausland nach Deutschland importieren. Das ist weder nachhaltig noch eine dauerhafte Lösung für das Straßentierproblem in so vielen verschiedenen Ländern.

Mir fielen, während der langen Arbeitstage auf Kreta, immer wieder einige Sätze meiner Kommilitonen ein: „Man kann ja schließlich nicht alle armen Seelen retten.“ „In Deutschland gibt es doch auch schon so viele Tiere.“ „Die Hunde aus dem Ausland sind doch alle krank und traumatisiert!“ Aber kann man dieses heikle Thema so pauschal abtun? Lautes Gebell und viele schwanzwedelnden Hunde rissen mich immer wieder aus meinen Gedanken und die Tage vergingen.

Als wir an unserer beinahe letzten Station ankamen, begrüßten uns, wie so viele Tage zuvor, erneut die aufgeregten Vierbeiner. Sie liefen und hüpften freudig vor uns am Schiebetor des Tierheimes auf und ab. Als ich näher kam und meine Hand durch die Gitterstäbe schob, wurde sie sogleich von einer warmen, feuchten Hundezunge abgeleckt. Sie gehörte einer abgemagerten, blonden Hündin, die versuchte, ihr Köpfchen an den übrigen Vierbeinern vorbeizuschieben.
„Na, wer bist du denn?“ sprach ich sie an. Aufgeregt zog sie mit ihrer Pfote meine Hand näher zu sich. Ich begegnete so vielen Hunden und alle waren ausnahmslos lieb, neugierig und, entgegen der weit verbreiteten Meinung, Menschen gegenüber friedlich gestimmt. Plötzlich ließ mich das Schicksal der blonden Hündin nicht mehr los. Woher kam wohl diese, mir so zugewandte Hündin mit den hervorstehenden Rippen und dem struppigen Fell? Was ist ihre Geschichte?

Die Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, hatte ich erst einmal nicht. Man arbeitet so vor sich hin, bereitet vor, kastriert, kümmert sich um die Nachsorge und hat überhaupt keine ruhige Minute, sich tiefer mit jedem einzelnen Schicksal zu beschäftigen. Vielleicht kann man dieses konsequente, durchgängige Tun auch als eine Art Selbstschutz sehen.
Die viele Arbeit ließ mir keine Zeit, weiter über die blonde Hündin am Schiebetor nachzudenken. Erst als ich einen Tag später genau eben jene Hündin, die mich so freundlich und schwanzwedelnd begrüßt hatte, für ihre Operation vorbereiten sollte, hat es sich für mich plötzlich so angefühlt, als würde ich sie schon länger kennen und mit ihr vertraut sein.

Diese abgemagerte Hundedame sah mich ganz geduldig an und hat alles brav über sich ergehen lassen – ohne sich zu wehren; als ob sie gewusst hätte, dass man ihr nur etwas Gutes will. Ich fühlte mich mit ihr verbunden. Irgendetwas hat mich dazu veranlasst, unseren letzten Schnelltest auf Reisekrankheiten an genau diesem einem Tier durchzuführen – alle Ergebnisse waren negativ. Als an diesem Nachmittag die blonde Hündin nach ihrer Operation aufwachte, torkelte sie mir, von der Narkose noch sichtlich müde, entgegen und wich mir nicht mehr von der Seite. Und obwohl wir als Team weiter gearbeitet und uns um alle weiteren Tiere gleichsam gekümmert haben, trafen meine Blicke immer wieder die dünne Hündin. Ihre rehbraunen Augen schienen tief in meine Seele zu blicken. Und all das, worauf ich die letzten Wochen so stolz war, nämlich auf professioneller Ebene vor Ort Gutes zu tun, war wie weggefegt. Ich merkte, wie mir langsam Tränen die Wangen hinunterliefen. Mir kam die Äußerung meiner Kolleginnen wieder in den Sinn: soll das Tierheim hier etwa auch die Endstation „meiner“ blonden Hündin sein?

Als wir abends das Tierheim am Tag vor unserer Abreise verließen, waren alle Hunde bereits in ihren Zwingern und Hütten verschwunden. Nur die schwache, kleine, blonde Hündin stand am Tor und schaute uns nach, bis unser Auto außer Sichtweite war. Da wusste ich mit Sicherheit, dass ich zum Telefon greifen musste. „Mama, ich möchte einen Hund mitbringen. Meinst Du, wir schaffen das?“

In meiner Situation, mit einem bevorstehenden Umzug, einer 1-Zimmer-Wohnung, einem 12-Stunden-Arbeitstag und einer beginnenden Doktorarbeit, brauchte ich die Unterstützung meiner Familie. Und auch ohne meine liebe Kollegin Valentina, die sich um Impfungen, Unterbringung und den Flug nach Deutschland gekümmert hat, wäre an eine Mitnahme gar nicht erst zu denken gewesen. Nachdem alles geregelt war, bekam meine Kleine auch einen Namen – „Lotti“.  Und kein anderer Name könnte ihr Wesen besser beschreiben.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland, einer Eingewöhnungsphase und vieeeeeel Aufbau-Kost, haben wir nun einen kleinen Wirbelwind, der an allem Spaß hat und uns zu Hundeschule, Spielgruppen und Waldspaziergängen „überredet“. Auch, wenn wir schon diverse Schuhe, Stofftiere und Socken im Haus suchen mussten, sagt mir jeder ihrer Blicke, dass meine intuitive Entscheidung richtig war.

Ich will mit meiner Geschichte nicht zu spontaner und wahlloser Adoption aufrufen, aber ich möchte zeigen, dass es eine Verbundenheit zwischen Mensch und Tier gibt, die man spüren und gegen die man sich nicht wehren kann. Ohne die Unterstützung von so vielen Freunden, Bekannten und Kollegen, hätte mein Seelenhund vielleicht nie den Weg zu mir gefunden. Ich danke all den lieben Menschen, die mich auf dieser Reise begleitet und mir den Rücken gestärkt haben. Und keine Angst, Mama. Nicht jeder zukünftige Kastrationseinsatz wird in einer Adoption enden, versprochen!

Eure Lara