Skip to main content Skip to page footer

Frau Hermalinde S.

Hallo Frau Hermalinde S.!

Nett, dass Sie mich eingeladen haben.

Ich sitze in Ihrem großen Haus in dem wunderschönen Wohnzimmer mit Blick auf den leider sehr verwilderten Vorgarten. Vor drei Jahren wurde hier zum letzten Mal der Rasen gemäht. Aber das ist jetzt unwichtig.

Vielmehr möchte ich von Ihnen alles erfahren, was Sie in Ihrem Leben durchgemacht haben. 1939 sind Sie im Sudetenland geboren, in einer Zeit, in der das Leben mehr ein Überleben war.
Vor mir liegt ein Fotoalbum aus Ihrem „Hamburger Schapp“, einem gewaltigen Schrank aus dem 18. Jahrhundert, den Sie 1991 für 42.000,- DM gekauft hatten, der heute aber leider fast nichts mehr wert ist. IKEA hinterlässt Spuren.

Ich blättere mich von einem Gesicht zum anderen. Die Personen sind mir unbekannt, für Sie war es die Familie. Und Freunde. Hinten drauf kleine Notizen, die ich aber nicht zuordnen kann. Noch nicht, denn… Frau S., nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber wir kennen uns ja gar nicht.
Etwas verlegen blättere ich auch in den anderen Unterlagen herum, so als würde mir die Antwort entgegenspringen auf eine Frage, die ich gar nicht so richtig formulieren kann. Was hätte ich nur für eine Frage an Sie? Wenn ich eine einzige stellen dürfte, dann vielleicht die: „Warum gerade wir?“

Michael, ein Freund der Arche, kommt mit einer Aktentasche aus Ihrem Keller ins Wohnzimmer. Die Tasche wirkt durch ihr Alter würdevoll und ich wünsche mir spontan, dass Sie sie mir schenken. Wertvoll ist sie sicherlich nicht, aber sie verkörpert die Jahre, die Vergänglichkeit, die Geschichte. Ihre Geschichte.

Urkunden, Zeugnisse, auch von Herrn S., der aber nicht Ihr Mann, sondern Ihr Bruder war. Heimatscheine aus Böhmen, von wo Ihre Familie einst nach Mönchengladbach zog. Dann die bestandene Prüfung zur Apothekerin, welche sicherlich dazu beitrug, dass Sie es ab jetzt gut haben sollten. Der Schwimmteich in Ihrem Garten und die schöne Einrichtung Ihres Hauses zeugen davon.

Wir hatten bis heute nichts miteinander zu tun. Außer, dass Sie in den vergangenen Jahren mehrmals größere Summen an unseren Verein spendeten. Ich ärgere mich, dass ich nicht mehr weiß, ob wir mal miteinander telefoniert haben, aber ich kann mich noch daran erinnern, dass ich vor einiger Zeit vor Ihrem Tor stand und klingelte, weil ich mich persönlich bedanken wollte. Vielleicht hätten Sie mir dann auch meine Frage beantwortet: „Warum wir?“.

Aber ich drehte ab, nachdem Sie nicht öffneten. Man muss bei solchen Treffen vorsichtig sein, denn woher sollte ich wissen, dass Ihr Umfeld nicht gegen die Spenden an unseren Verein war oder davon gar nichts wusste. Schnell kann so eine Danksagung, wenn sie nicht extrem vorsichtig formuliert ist, nach hinten losgehen. Also drehte ich ab und wir beide verpassten uns.
Heute bin ich zum zweiten Mal bei Ihnen und schon wieder haben Sie die Tür nicht geöffnet. Aber von Ihrem Anwalt erfuhr ich den Türcode. 1307. Damit ließen Sie mich und drei Freunde und Helfer hinein.

Vier fremde Menschen hießen Sie willkommen. Vier Menschen, die ein Teil des Fördervereins sind, betraten Ihr Haus und fühlten sich nicht wie Gäste, sondern wie Einbrecher oder kleine Diebe.

Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie in Schubladen anderer Personen herumgewühlt, weil es sich nicht gehört und weil ich auch kein neugieriger Mensch bin. Aber Sie baten darum und trotzdem findet sich nirgendwo die Antwort.

Lediglich das herausgerissene Editorial unseres „Im Einsatz“-Heftes aus dem Jahr 2018 liegt bei den Zeitschriften, die Sie neben Ihren uralten Fernseher gelegt hatten. In Ihrem Fotoalbum halten Sie einen Cocker-Spaniel auf dem Arm und in Ihrem Keller zieren aufgeklebte Tierbilder die Wände.

Mehr Zusammenhänge werden wir in den nächsten drei Tagen auch nicht finden, obwohl wir in jede Ecke Ihres Hauses schauen.
Frau S., es ist sehr schade, dass es zu einem dritten Treffen nicht mehr kommen wird. Ich wünsche mir aber, dass Sie sehen können, dass wir verantwortungsvoll mit allem umgehen, was Sie uns hinterlassen haben. Dass Sie wissen, dass jeder Cent genau dafür ausgegeben wird, für was wir stehen: Kastrationen.

Ihre Aktentasche möchte ich behalten und ehren. Sie kommt mit all den Urkunden, Prüfungen, Zeugnissen und Ihren Fotos ins NLR.

Begleiten Sie uns auch weiterhin als unsichtbare Eminenz und erfreuen Sie sich an dem unzähligen Elend, welches wir verhindern und nicht auf diese Erde kommen lassen.
Ich hätte sehr gerne gewusst, warum Sie uns Ihren kompletten Besitz vermacht haben, was Sie dazu bewegt hat, einem kleinen Tierschutzverein die Zukunft einfacher zu machen.
Aber die Antwort haben Sie mitgenommen.

So bleibt mir lediglich der Wunsch, an all die Menschen, die ähnliche Gedanken wie Sie sie hatten, zu richten, sich rechtzeitig mit uns anzufreunden, sich gegenseitig kennenzulernen und von unserer Arbeit überzeugt zu sein, damit am Ende nicht jemand Fremdes in ihrem Wohnzimmer sitzt und versucht, ihre Geschichte zu rekonstruieren und der nicht raten muss: „Warum gerade wir?“

Danke für eine Anerkennung, die mich und jeden einzelnen von unserem gesamten Team hochmotiviert hat.

Ihr Thomas Busch